08.04.2021 Recht | Ratgeber

Über 4000 Euro: Hohe Kosten bei Vertrags­widerruf unzulässig

Eine 84-jährige Kundin der Allianz sollte nach dem Widerruf ihrer Sofortrente 140 Euro pro Tag bis zum Fristablauf zahlen. Laut OLG Stuttgart ist das ungemessen hoch. Der Versicherer verweist auf die besondere Konstellation des Falls und bereits angepasste Bedingungen.

Die Verbraucherzentrale Hamburg hatte geklagt und wertet das Stuttgarter Urteil als Erfolg für den Verbraucherschutz. (Foto: succo/Pixabay)
Die Verbraucherzentrale Hamburg hatte geklagt und wertet das Stuttgarter Urteil als Erfolg für den Verbraucherschutz.
(Foto: succo/Pixabay)

Das Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart hat der Allianz Lebensversicherung verboten, die Widerrufsfolgen bei Sofortrentenversicherungen einzelfallunabhängig zu berechnen. Geklagt hatte die Verbraucherzentrale Hamburg. Ausgangspunkt war laut der Verbraucherschützer der Fall einer 84-Jährigen, die 50.000 Euro in eine sofort beginnende Rentenversicherung investiert hatte. Daraus sollte sie jährlich knapp 4200 Euro Rente erhalten. Der Vertrag habe die übliche Widerrufsbelehrung enthalten. Demnach sollte die Verbraucherin über 138 Euro pro Tag bis zum Widerruf zahlen. Wäre dieser erst am Ende der gesetzlichen Frist von 30 Tagen erfolgt, so hätte sie über 4000 Euro zahlen müssen. Der Betrag war nach der Formel berechnet worden: Tagessatz lebenslange Sofortrente = Einmalbetrag / (Lebenserwartung – erwartetes Lebensalter der versicherten Person) × 360).

Nachteilige Berechnungsformel

 

Das OLG gab der Klage im Berufungsverfahren teilweise statt (Az. U 565/19). Demnach ist bei Abschluss von Versicherungsverträgen mit Tarifen, die eine Rente gegen Einmalzahlung versichern, die angewendete Formel für die Prämienberechnung im Widerspruchsfall unzulässig. „Der Versicherungsnehmer darf durch eine unverhältnismäßig hohe Forderung nicht von der Geltendmachung seines Rechts zum Widerruf abgehalten werden“, so die Richter. Dies sei hier aber der Fall, denn 138 Euro pro Tag seien eine exorbitant hohe Summe, die erkennbar in keiner Weise durch ein übernommenes Versicherungsrisiko gerechtfertigt werden könne. Auch habe der Versicherer keinerlei Dienstleistung in der Zeit bis zum Widerruf erreicht.

Tatsächliche Lebenserwartung höher

 

Die Berechnungsformel erweist sich laut OLG auch aufgrund der Annahme, dass bei 84-jährigen Kunden lediglich eine Vertragsdauer von einem Jahr zu erwarten ist, als nicht sachgerecht. Die statistische Lebenserwartung sei vom jeweiligen Lebensalter abhängig, sodass es nicht den objektiven Maßstäben entspreche, eine einheitliche Lebenserwartung von 85 Jahren zugrunde zu legen. Diese betrage für Frauen, die das 80. bzw. 90. Lebensjahr bereits erreicht haben, weitere 9,2 bzw. 4,2 Jahre. Eine entsprechende Anpassung der Berechnungsformel würde sich erheblich auswirken.

Allianz betont Sieg im Hauptsacheverfahren

 

Die Allianz Leben wiederum teilte über eine Sprecherin gegenüber VP-Online mit, dass man im Hauptsacheverfahren Recht bekommen habe. In dem schriftlichen Statement heißt es: „Das OLG Stuttgart hat bestätigt, dass die gesetzliche Musterwiderrufsbelehrung auch im Fall von sofort beginnenden Rentenversicherungen mit Einmalbeitragszahlung anzuwenden ist. Dies war von der Verbraucherzentrale Hamburg in Zweifel gezogen worden. Das OLG Stuttgart ist damit der diesbezüglichen Position der Allianz Lebensversicherungs-AG und des erstinstanzlichen Urteils des Landgerichts Stuttgart gefolgt.“

Nur geringfügige Anpassung ohne Auswirkungen

 

Stattgegeben habe das Gericht lediglich einem der Hilfsanträge der Verbraucherzentrale Hamburg. „Nur in Konstellationen, die dem der Klage zugrundeliegenden Sachverhalt (Alter der Versicherungsnehmerin bei Vertragsabschluss 84 Jahre) genau entsprechen, wurde die Allianz Leben verpflichtet, bei der Berechnung des für die Zeit bis zum Widerruf einzubehaltenden Prämienanteils zukünftig nicht mehr eine geschlechtsunabhängige Lebenserwartung von 85 Jahren zugrunde zu legen und einen darauf beruhenden Betrag in den Hinweisen zu den Widerrufsfolgen auszuweisen.“

Die Entscheidung habe für den Versicherer keine praktischen Auswirkungen, da das Verfahren bereits im Jahr 2018 angepasst worden sei. Es könne in keinem Fall, auch nicht in vergleichbaren Konstellationen wie der dem Urteil zugrundeliegenden, zum Ausweis eines unangemessen hohen Betrags kommen.


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