Kleinigkeiten erlauben keinen Widerruf
Nur bei gravierenden Belehrungsfehlern kann der Versicherungsnehmer von seiner Lebensversicherung zurücktreten und von seinem Versicherer die Rückabwicklung des Vertrags verlangen. VP-Experte Markus Weyer erörtert ein aktuelles Urteil zum Sachverhalt.
Der Fall.
Zwei Versicherungsnehmer (VN) schlossen 2002 fondsgebundene Lebens- und Rentenversicherungsverträge nach dem sogenannten Policenmodell. Zunächst kündigten sie die Verträge und erklärten 2018 den Widerspruch nach § 5a VVG a.F. Die Widerspruchsbelehrung sei falsch, da die Belehrung statt der ausreichenden Textform die Schriftform verlangte. Ferner verstoße das Policenmodell gegen Europarecht. Der Versicherer (VR) weigerte sich. Die VN traten ihre Ansprüche ab und ließen klagen.
Der Rechtsstreit.
Das LG Berlin (Az. 24 O 26/20) und das Kammergericht (6 U 1139/20) wiesen die Klage ab und verwiesen auf den Grundsatz von Treu und Glauben. Demnach genieße der VR ein schutzwürdiges Vertrauen, wenn anzunehmen ist, dass der Versicherungsnehmer auch in Kenntnis seines Widerrufsrechts an diesem festgehalten hätte. Dies sei hier der Fall gewesen. Der Fehler der Belehrung über eine Schriftform der Widerspruchserklärung könne die VN nicht ernsthaft von der Ausübung des Widerspruchsrechts innerhalb der geltenden Frist abgehalten haben.
Das Urteil.
Dem stimmte der Bundesgerichtshof (BGH) zu. Die Ausübung des Widerspruchsrechts verstößt dann gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB), wenn nur ein geringfügiger Belehrungsfehler vorliegt, durch den dem VN nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben. Die unrichtige Information über ein Recht zum schriftlichen Widerspruch statt der ausreichenden Textform ist ein unbeachtlicher Fehler.
Die Frage, ob das Policenmodell mit Europarecht unvereinbar ist, war unerheblich. Auch bei unterstellter Unionswidrigkeit des Policenmodells ist es dem VN nach Treu und Glauben wegen widersprüchlicher Rechtsausübung verwehrt, sich nach jahrelanger Durchführung des Vertrages auf dessen angebliche Unwirksamkeit zu berufen (Az: IV ZR 465/21).
Der Ausblick.
Der BGH setzte hier das EuGH-Urteil „Rust-Hackner u.a.“ um (Az. C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18) . Eine erneute Vorlage zum Einwand von Treu und Glauben an den EuGH war nicht erforderlich. Für Lebensversicherungen hat dieser festgestellt, dass die Mitgliedstaaten die Modalitäten der Ausübung eines Rücktrittsrechts und der Mitteilung von Informationen, insbesondere zur Ausübung dieses Rechts, selbst regeln können. Da der EuGH bei Versicherungen nach der Bedeutung des Belehrungsmangels differenziert, war auch unbeachtlich, dass er zu Verbraucherkreditverträgen anders entscheidet. Ob jedoch das Policenmodell an sich gegen Europarecht verstößt, bleibt weiter offen.