Nicht redlich und ehrlich – Bayern-Kompromiss auf der Kippe?
Der Rechtssachverständige Professor Hans-Peter Schwintowski ist überzeugt, dass der Bayern-Kompromiss in der Betriebsschließungsversicherung unwirksam ist. Er verstößt gegen die seit 2018 geltenden IDD-Regeln. Kunden, die das Angebot damals angenommen hatten, könnten jetzt auf Schadenersatz klagen.
In den vergangenen Tagen und Wochen folgte in Sachen Betriebsschließungsversicherung (BSV) ein Urteil auf das nächste – und ein Ende ist nicht in Sicht. Trotz vieler zufriedenstellender individuelle Lösungen, die Versicherer mit ihren Kunden gefunden haben, wählt eine Reihe von Unternehmen den Klageweg. Manche erzielten so hohe finanzielle Vergleiche mit ihren Anbietern, bei anderen entschieden meist die Versicherungsbedingungen in Bezug auf das Infektionsschutzgesetz über Sieg und Niederlage vor Gericht.
Tragfähige Lösung oder fauler Deal?
Dort, wo der Streit nicht eskalierte, war bisher der sogenannte Bayern-Kompromiss Ausgangspunkt für den Versuch einer einvernehmlichen Lösung. Hintergrund: Nach der ersten Schließungswelle im Frühjahr 2020 hatte sich das bayerische Wirtschaftsministerium mit mehreren Versicherern, dem bayerischen Hotel- und Gastronomieverband (DEHOGA Bayern) und der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft auf einen Kompromiss im Streit um Versicherungsleistungen für die von Corona betroffenen Hotels und Gaststätten geeinigt. Dieser sieht vor, dass von den nicht durch Bund und Länder per Kurzarbeitergeld und Soforthilfen übernommenen finanziellen Ausfälle in Höhe von 30 Prozent, die Versicherer zwischen zehn und 15 Prozent übernehmen. Daran beteiligte Versicherer wie die Allianz lehnten den Leistungsanspruch aus der BSV aber grundsätzlich ab. Auf weitere Ansprüche sollten Kunden verzichten. Aus Sicht von Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger „eine tragfähige und vernünftige Lösung für beide Branchen“. Juristen wie Norman Wirth von der Berliner Kanzlei Wirth Rechtsanwälte sprachen schon damals von einem schlechten Deal und rieten von der pauschalen Annahme des Angebots ab.
Verstoß gegen IDD- Pflichten
Genau dieser Kompromiss könnte nun auf der Kippe stehen. So sieht es zumindest der bekannte Rechtswissenschaftler Professor Hans-Peter Schwintowski von der Humboldt-Universität Berlin. In einem von ihn verfassten Rechtsgutachten mit dem Titel: „Die Bayrische Lösung – nicht redlich, nicht ehrlich, nicht im bestmöglichen Interesse der VN“ kommt er zu dem Schluss, dass der Kompromiss unwirksam sei. Kern der Argumentation von Schwintowski ist Paragraf 1 a Versicherungsvertragsgesetz (VVG). Darin heißt es, dass der Versicherer bei seiner Vertriebstätigkeit gegenüber Versicherungsnehmern stets ehrlich, redlich und professionell in deren bestmöglichem Interesse handeln muss. Diese sogenannten Wohlverhaltensregeln wurden im Zuge der Versicherungsvertriebsrichtlinie IDD eingeführt und gelten seit 2018.
Nicht ehrlich, redlich und im bestmöglichen Interesse
Nach Einschätzung des Rechtsprofessors erfüllen die Versicherer die IDD-Regeln nicht. Indem sie den Kunden mitteilten, dass sie „gemäß den Versicherungsbedingungen keinen Versicherungsschutz hätten“, seien sie nicht ehrlich gewesen. Schließlich bestünden bis heute allenfalls Zweifel an der Leistungsverpflichtung aus der BSV. Ein weiteres Argument von Schwintowski: „Offen war im April 2020, ob und wie die Gerichte über die Auslegung der Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) wohl entscheiden würden. Diese Zweifel legten die Versicherer nicht offen, sondern behaupteten (quasi objektiv), die AVB böten keinen Versicherungsschutz. Heute sehen das viele Gerichte anders.“ Auch hättten die Anbieter missverständlich informiert und damit nicht redlich gehandelt.
Außerdem könne der Verzicht auf mindestens 85 Prozent eines möglichen Anspruchs nicht als Handeln im „bestmöglichen Interesses“ des Versicherungsnehmers verstanden werden. Zumal der Kompromiss sich nur auf maximal 30 Tagessätze bezog und Versicherungsnehmer mit mehr versicherten Tagessätzen noch höhere Einbußen in Kauf zu nehmen hätten. Schwintowski: „Im bestmöglichen Interesse der Kunden hätte es gelegen, ihnen keinen Vergleich, sondern eine echte Kulanzzahlung anzubieten.“
Keine Maklerhaftung
In seinem Gutachten verneinte der Rechtswissenschaftler die Frage nach einer möglichen Maklerhaftung „Sie haben an der Bayrischen Lösung nicht mitgewirkt.“ Es fehle an einer Pflichtverletzung, weil Makler die überlegene Sach- und Fachkunde der Bayrischen Staatsregierung und der beteiligten Verbände nicht infrage stellen könnten. Durch einen Ratschlag des Maklers zur Annahme des Kompromisses sei kein Schaden entstanden, weil der Kunde Anspruch auf Rückgängigmachung des Vergleichs hat.
Schadenersatzansprüche geltend machen
Schwintowski rät Betroffenen nun, der bayerischen Lösung unter Verweis auf Verletzung von § 1a VVG zu widersprechen und Ansprüche aus ihrer BSV geltend zu machen. So sieht es auch die Hamburger Kanzlei Michaelis, mit der Schwintowski assoziiert ist. Rechtsanwalt Stephan Michaelis: „Nach intensiver Beschäftigung mit der Rechtslage sind wir der Auffassung, dass sich die Versicherer falsch in der Kommunikation der Bayerischen Lösung verhalten hatten.“ Kunden hätten über die geleistete Zahlung hinaus einen Schadenersatzanspruch von 85 Prozent. Die Kanzlei hat nach eigenen Angaben zwei Prozessfinanzierer gefunden, die das finanzielle Risiko bei der Durchsetzung von Ansprüchen übernehmen.
Neu ist die Rechtsauffassung von Schwintowski und Michaelis indes nicht. Schon im Juli 2020 hatte Tobias Strübing, Partner der Kanzlei Wirth Rechtsanwälte zum Bayern-Kompromiss gesagt: „Diese Vergleiche dürften in sehr vielen Fällen treuwidrig und damit unwirksam sein. Kunden können daher trotz des Vergleiches auch weiterhin die volle Versicherungsleistung verlangen.“ Sein Kollege Norman Wirth sieht nun bereits eine „zweite Welle“ auf die Gerichte zurollen. „Wenn der Vergleich unwirksam ist, wird alles auf null gestellt“, so Wirth. Am Ende muss wohl der Bundesgerichtshof entscheiden.