Open Insurance – Chancen und Gefahren für Finanzdienstleister
Neue Angebote und Geschäftsmodelle durch die Öffnung integrativer Datenschnittstellen: Open Insurance ist ein Digitalisierungstrend bei dem Nachholbedarf besteht, aber auch zwischen Chancen und Risiken abgewogen werden muss. Ein Gastbeitrag von Martin Klein, Geschäftsführender Vorstand vom Vermittlerverband VOTUM.
Big Data, Artificial Intelligence, Big Tech, SupTech, Financial Home, Data Ecosystem, Framework, API, GDPR, PSD2, DFS, KYC, IPID, NCA – das ist nur ein kleiner Auszug an Abkürzungen, Akronymen und Bezeichnungen, die immer wieder im Zusammenhang mit dem Zauberbegriff „Open Insurance“ fallen. Doch was mit dem Begriff, der allzu schnell verwendet wird, wirklich gemeint ist und welche Chancen und Gefahren auf die Finanzdienstleistungsbranche zukommen können, darüber herrscht wenig Kenntnis. Ein Grund ist, dass es keine allgemeingültige Definition von „Open Insurance“ gibt.
Was ist „Open Insurance“ überhaupt?
Dennoch lässt sich dieser Megatrend möglichst einfach und ohne Abkürzungen folgendermaßen zusammenfassen: „Open Insurance ist die unternehmensübergreifende Nutzung standardisierter und strukturierter Daten innerhalb digitaler Ökosysteme und Wertschöpfungsketten zur Entwicklung individualisierter, neuer Angebote für Kunden.“ Open Insurance kann also ein Weg sein, möglichst schnell und auf den Punkt genau dem Kunden in der Welt der Versicherungen weiterhelfen zu können. Die kundenzentrierte, gemeinsame Nutzung von standardisierten Daten soll dabei im Mittelpunkt stehen.
Wie gelingt Open Insurance?
Damit Open Insurance überhaupt eine Chance am Markt haben kann, müssen die Datenmengen erfasst, aufbereitet, integriert, analysiert und in verschiedenen Anwendungsfällen genutzt werden können. Notwendig ist eine ganzheitliche und branchenübergreifende Vernetzung möglichst aller Akteure entlang der Wertschöpfungskette. Zum digitalen Ökosystem gehören Banken, Vermittler, Vertriebe und Versicherer ebenso wie Verbraucher, Hersteller oder Dienstleister. Open Insurance außerdem eine Entwicklung hin zu ganzheitlichen Angeboten von Finanzdienstleistungen.
Um als Versicherer, Finanzvertrieb oder Maklerpool bei diesem Thema mitspielen zu können, müssen insbesondere die unternehmenseigene Datenquantität und -qualität stimmen. Hier hat die Finanzdienstleistungsbranche einen entscheidenden Vorteil: Niemand kennt seine Kunden besser. Im Vergleich zu anderen Branchen werden in der Finanzberatung viele, relevante und hervorragend verwertbare Daten aufgenommen. Diese gilt es systematisch zu integrieren, zu analysieren – und schließlich zu nutzen.
Mehrwerte und bessere Angebote für Kunden
Die Chancen für die Finanzdienstleistungsbranche liegen auf der Hand: Ein digitales Ökosystem mit Versicherungsdaten bietet die Chance, dem Verbraucher die Kernkompetenzen vieler Unternehmen integrativ und damit auf einen Blick zur Verfügung zu stellen. Das schafft neue Mehrwerte in vielen Bereichen und bedient zugleich die durch andere Plattformlösungen à la GAFA (Google, Amazon, Facebook, Apple) geförderte Erwartungshaltung der Kunden, ganzheitliche, passgenaue Angebote und Lösungen zu erhalten. Durch das gezielte Öffnen von möglichst standardisierten Datenschnittstellen zu anderen Marktteilnehmern können damit neuartige Angebote, Services oder ganze Geschäftsmodelle gestaltet werden. Wo erforderlich können Vertriebe und Makler dem Kunden weiterhin nicht nur digital begegnen, sondern immer auch persönlich. Marktstudien haben bestätigt, dass dies sowohl bei der umfassenden Beratung als auch im Schadenfall eine Schlüsselkompetenz ist, die auch künftig den Unterschied machen wird.
Standardisierte Datenschnittstellen nicht ohne Risiko
Apropos GAFA: Fast überall, wo große Datenschätze zur Verfügung stehen, sind die Tech-Riesen nicht weit entfernt. Das ist sicherlich eine der größten Herausforderungen für die Finanzdienstleistungsbranche, wie wir sie heute kennen. Ein digitales Ökosystem mit standardisierten Datenschnittstellen öffnet Tür und Tor für die Global Player dieser Welt. Als mittelständischer Produktgeber diesen Multimilliarden-Konzernen mit Erfolg die Stirn zu bieten, wäre bei einer solchen angedachten Datenlandschaft eine echte Mammutaufgabe. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, den es zu entkräften gilt, bevor das Thema Open Insurance in der Fläche attraktiv werden kann: Standardisierung heißt immer auch Vergleichbarkeit. Ein digitales Ökosystem mit Versicherungsdaten würde maximale Vergleichbarkeit jeglicher Produkte, Services und Leistungen bedeuten. Das muss jedem Akteur bewusst sein, der dieses Spiel mitspielen möchte.
Und schon sind wir bei der potenziellen Sollbruchstelle: Das Öffnen des „Datenschatzes“ des Unternehmens durch Schnittstellen – sogenannten APIs (Application Programming Interface) oder „Open-API-Portalen“. Es wird sich zeigen, inwiefern die Finanzdienstleistungsunternehmen bereit sind, den Zugang zu ihrem höchsten Gut – die Informationen über den Verbraucher – zu gewähren und damit einen bedeutenden Teil ihrer Wertschöpfung anderen Akteuren zur Verfügung zu stellen. Mal abgesehen von den – aktuell insbesondere auf europäischer Ebene laufenden – Debatten zur Regulierung der Branche in diesem Bereich, des Wettbewerbs und der Datenteilung.
Noch fehlen offene APIs für Drittanbieter
Wenngleich bereits heute einzelne Versicherer für ihre eigenen Schnittstellen „Open-API-Portale“ anbieten, fehlt es insgesamt in der Versicherungswirtschaft jedoch weiterhin an standardisierten, branchenübergreifend nutzbaren APIs und Prozessen, die – selbstverständlich unter der Wahrung der Datenhoheit des Kunden – eine flexible Anbindung von Drittanbietern erlauben und damit den Aufbau von Plattformgeschäftsmodellen unterstützen. Eine Initiative, die versucht, genau diese Lücke zu schließen, ist FRIDA. Die „Free Insurance Data Initiative “ hat zum Ziel, offene Standards im digitalen Versicherungswesen zu etablieren. Dabei setzt FRIDA unter der Beteiligung namhafter Unternehmen wie dem HDI oder der ALH-Gruppe auf eine strukturierte Zusammenarbeit zwischen Versicherern und Versicherten und weiteren Akteuren in digitalen Ökosystemen.
Treiber der Entwicklung statt Beobachter
Noch ist nicht klar, wie stark sich die Branche der noch jungen, aber sehr ambitionierten Initiative öffnen wird. Klar ist aber, dass digitale Ökosysteme über kurz oder lang auch vor der Versicherungswirtschaft nicht Halt machen werden. Im großen VOTUM-Netzwerk von Finanzvertrieben, Maklerpools, Versicherungen, Kapitalanlagegesellschaften und Branchendienstleistern wird das Thema jedenfalls nicht so schnell von der Agenda verschwinden. So wurde bei der jüngsten Diskussionsrunde auf der Fachtagung des Verbands Anfang November in Berlin deutlich, dass die Vertriebe und Plattformen sich dem Thema aktiv und angstfrei als Treiber widmen wollen und nicht bloß als Beobachter abwarten werden, bis andere Markteilnehmer die Erträge ernten. VOTUM wird dies im Interesse seiner Mitglieder auch weiterhin fördern.
VOTUM
Der VOTUM Verband Unabhängiger Finanzdienstleistungs-Unternehmen in Europa e.V. ein der Branchenverband der unabhängigen Finanz- und Versicherungsvermittlungsunternehmen mit Hauptsitz in Berlin. Als solcher vertritt VOTUM die Interessen seiner Mitglieder im Rahmen nationaler und europäischer Gesetzgebungsinitiativen und bietet eine Plattform zur perspektivischen Bewertung regulatorischer Rahmenbedingungen.
An die VOTUM-Mitgliedsunternehmen sind rund 100.000 unabhängige Versicherungs- und Finanzanlagenvermittler angebunden. Die Mitarbeiter und Kooperationspartner der Mitglieder beraten über elf Millionen Verbraucher zu Fragen der Absicherung im Alter, der Vermögensbildung und des Versicherungsschutzes.
Der geschäftsführende Vorstand von VOTUM, Rechtsanwalt Martin Klein, übernahm 2020 zudem den Vorsitz im europäischen Dachverband der unabhängigen Finanzberater und Finanzvermittler FECIF. FECIF setzt sich für eine verhältnismäßige Regulierung der europäischen Finanzdienstleister ein und plädiert für einheitliche Regulierungsstandards der Branche in der Europäischen Union.