08.10.2024 Sparten/Produkte

Pflegeversicherung zwischen Reform und Kollaps

Milliardendefizit in der Pflegekasse: Beitragszahlerinnen und -zahler müssen sich 2025 auf höhere Beiträge einstellen. Während das Bundesgesundheitsministerium das System mit einer Reform stabilisieren will, fordern gesetzliche Kranken- und Pflegekassen mehr Geld. Der PKV-Verband setzt auf private und betriebliche Pflege-Vorsorge.

In einer alternden Gesellschaft steigt das Pflegerisiko. Aktuell laufen der Pflegeversicherung die Kosten aus dem Ruder. (Foto: © Photographee.eu – adobe.stock.com)
In einer alternden Gesellschaft steigt das Pflegerisiko. Aktuell laufen der Pflegeversicherung die Kosten aus dem Ruder.
(Foto: © Photographee.eu – adobe.stock.com)

Der Bundesgesundheitsminister sah sich zu einem scharfen Dementi gezwungen: „Der Pflegeversicherung droht nicht die Insolvenz. Die Bundesregierung bürgt dafür.“ Karl Lauterbach (SPD) widersprach damit einem Bericht des Redaktionsnetzwerks Deutschland, demzufolge das System Anfang 2025 vor der Pleite stehe. Für den Ressortchef kommt die neuerliche Diskussion um die Finanzierbarkeit der Pflegeversicherung zur Unzeit: Lauterbachs Ministerium arbeitet mit Hochdruck an einer großen Reform, die in Kürze vorgestellt werden soll. „Wir haben einen Reformstau. Zu viel ist zu lange liegen geblieben.“ Doch auch der Bundesgesundheitsminister deutete weitere Beitragserhöhungen ab 2025 an. Konkreter wurde Lauterbach bislang nicht.

Beiträge zur Pflegeversicherung: von ein auf über vier Prozent

 

Tatsächlich steht die Soziale Pflegeversicherung (SPV) vor einem gewaltigen Liquiditätsproblem. Die Verbände der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen erwarten für das laufende Jahr ein Defizit von 1,8 Milliarden Euro, das 2025 auf 3,5 bis 5,8 Milliarden Euro im Worst-case anwachsen könnte.

Wir haben einen Reformstau. Zu viel ist zu lange liegen geblieben.

Karl Lauterbach, Bundesgesundheitsminister

Wenn die Bundesregierung weiter in der Tatenlosigkeit verharrt, bleibt als einziger Ausweg nur der Griff in die Taschen der Beitragszahlenden in Höhe von 0,2 bis 0,3 Beitragssatzpunkten, warnen die Verbände in einer gemeinsamen Erklärung. Aktuell zahlen Kinderlose vier Prozent in die Pflegeversicherung, die 1995 mit einem Beitragssatz von einem Prozent gestartet war. Für Beschäftigte mit Kindern werden zwischen 2,4 und 3,4 Prozent fällig, die Hälfte davon trägt der Arbeitgeber.

Sozialbeiträge steigen so stark wie seit 20 Jahren nicht mehr

 

Eine erneute Beitragserhöhung würde Arbeitnehmer, Arbeitgeber und insbesondere Rentner, die den Betrag alleine stemmen müssen, spürbar belasten. Bei einem Bruttogehalt von 3000 Euro entsprechen 0,2 Beitragspunkte einem monatlichen Mehrbetrag von sechs Euro, rechnet der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem von der Universität Duisburg-Essen vor. Außerdem müssen Versicherte in der gesetzlichen und in der privaten Krankenversicherung mit höheren Beiträgen kalkulieren. Es droht in Deutschland der stärkste Anstieg der Sozialbeiträge seit mehr als 20 Jahren.

Höhere Kosten, mehr Pflegebedürftige, weniger Beitragszahler

 

Die Gründe für die Schieflage der Pflegeversicherung sind bekannt. Derzeit gelten mehr als 5,2 Millionen Menschen als pflegebedürftig. Und die Zahl der Versicherten mit Leistungsanspruch steigt – die Generation der Baby-Boomer wird diese Entwicklung noch beschleunigen. Gleichzeitig sinkt die Zahl der Beitragszahlerinnen und -zahler. 

Obergrenze für die Eigenanteile oder gar eine Pflegevollversicherung sind Sozialpolitik mit der Gießkanne.

Florian Reuther, PKV-Verbandsdirektor

Außerdem hat der Ausbau der Leistungen im Zuge der Reform 2023 die Pflegeversicherung erheblich belastet. Das Pflegegeld für Angehörige wurde erhöht und auch die Zuzahlungen zum Eigenbetrag bei vollstationärer Pflege sind deutlich gestiegen. Höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und inflationsbedingte Mehrausgaben der Pflegeeinrichtungen belasten die Kassen zusätzlich.

Das Pflegerisiko privat absichern

 

Der Verband der Privaten Krankenversicherung fordert nun einen Neustart. „Obergrenzen für die Eigenanteile oder gar eine Pflegevollversicherung sind Sozialpolitik mit der Gießkanne – weder zielführend noch bezahlbar. Die Kosten tragen die Beitrags- und Steuerzahler und vor allem die jüngeren Generationen, während davon auch Menschen mit Privatvermögen profitieren“, mahnt PKV-Verbandsdirektor Florian Reuther. Fast 70 Prozent der Rentnerhaushalte könnten sich aus ihrem Einkommen und Vermögen einen Platz im Pflegeheim für mehrere Jahre leisten. Der PKV-Verband plädiert für den Ausbau der privaten und betrieblichen Pflege-Vorsorge. Reuther: „Durchgerechnete Konzepte für eine Absicherung zu bezahlbaren Beiträgen liegen auf dem Tisch.“ Wichtig ist, die Pflegelücke frühzeitig zu schließen. Wie das mit einer Pflegetagegeldversicherung schon heute geht, lesen Sie in diesem Artikel des FOCUS MONEY-Versicherungsprofi

Falsche Mittelverwendung durch den Bund

 

Die Verbände der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen sehen indes vor allem die Bundesregierung in der Pflicht. So stünde der Sozialen Pflegeversicherung noch die Erstattung eines Teils der insgesamt mindestens sechs Milliarden Euro Mehrkosten aus der Corona-Pandemie zu. Ein Rechtsgutachten im Auftrag der DAK belege, dass der Bund zu Unrecht auf die Beitragsgelder der SPV zurückgegriffen habe, um Maßnahmen der Pandemie wie Corona-Tests oder Pflege-Boni zu bezahlen. Auch die im Koalitionsvertrag vereinbarte steuerliche Gegenfinanzierung der Rentenversicherungsbeiträge für pflegende Angehörige sei überfällig. „Auch hierbei handelt es sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und keine Versicherungsleistung.“


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